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Missouri

Roman | Gregor Hens


2019 Aufbau Digital
Auflage: 1. Auflage
288 Seiten
ISBN: 978-3-8412-1719-6

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Kurztext / Annotation
'Vergesst die ganzheitlichen Entwürfe, scheint Gregor Hens zu sagen, es sind die Scherben, aus denen das Glück blitzt'. FAZ. Sommer 1989: Karl ist 25 Jahre alt und will seine unglückliche Jugend im Internat hinter sich lassen. Ein Job als Assistant Teacher in Columbia, Missouri, ist die ersehnte Möglichkeit, sich neu zu erfinden. Dort verliebt er sich in Stella, eine seiner Studentinnen. Und aller Rationalismus relativiert sich angesichts der Gefühle, die sie in ihm auslöst. Die er ebenso wenig versteht, wie ihre eigenartige Gabe, für kurze Zeit die Schwerkraft zu überwinden. Ist das Traum, Einbildung oder das, was man Wirklichkeit nennt? Gregor Hens hat einen eindringlichen Roman über die Zeit im Leben geschrieben, in der die Weichen gestellt werden für alles, was kommt - und die Geschichte einer ersten großen Liebe, die im Scheitern unwiderruflich prägt. 'Gregor Hens verwandelt die Gegenstände seiner Welt in Verstärker poetischer Kraft: summend, vibrierend und Funken sprühend.' New Yorker.

Gregor Hens, geboren 1965 in Ko?ln, arbeitete mehr als zwanzig Jahre lang in den USA, bevor er 2013 nach Deutschland zurückkehrte. Er ist freier Autor und Literaturübersetzer und lehrt Kreatives Schreiben und Urbanistik an der Freien Universität Berlin. Sein Memoir »Nikotin« wurde in sechs Sprachen u?bersetzt. Zuletzt erschienen bei Aufbau »Missouri« und in der Anderen Bibliothek der Essay »Die Stadt und der Erdkreis«. Gregor Hens lebt mit seiner Familie in Berlin.



Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

2

Erschöpft vom langen Flug trat ich auf das Rollfeld von Lambert Field, das noch die Mittagshitze abstrahlte. Ich wäre am liebsten auf die Knie gefallen, um den heißen Asphalt zu küssen. Ich wusste kaum, wer ich war und was aus mir werden sollte. Den größeren Teil meiner Jugend hatte ich in einem Internat am Niederrhein verbracht, wo ich lateinische Grammatik und Judo gelernt hatte und sonst beinahe nichts. Nach dem Abitur zog ich ein paarmal um, wohnte einige Monate auf einem Bauernhof bei Kleve und studierte vier Semester lang lustlos an der Kölner Universität. Dann: Missouri.

Bereits als Schüler hatte ich ein halbes Jahr in Amerika verbracht, in einem kleinen Ort namens Ridgefield im Nordwesten des Landes. Mein damaliger Gastvater Steve war ein Trompete spielender Pastor einer winzigen Baptistengemeinde. Unter der Woche jobbte er als Baggerfahrer. Wenn mich niemand beobachtete, spielte ich auf der Orgel in der kleinen, weiß geschindelten Kirche neben dem Haus Tom-Waits-Lieder. Im Windfang des Drogeriemarkts, dem einzigen Laden im Ort, spielte ich an einem Automaten Frogger, abends schrieb ich lange Briefe an Ulrike, die in einem Architektenhaus am Ende unserer Straße aufgewachsen war. Christie, meine Gastmutter, bemühte sich, mich zu verstehen, sie stellte mir Fragen und hörte mir zu. Mehr als jeder andere spürte sie das Ausmaß meiner Verwirrung. Sie nahm mich mit zum Einkaufen, sie stellte mich ihren Freunden vor. Steve lieh mir sein Remington-Gewehr, auf dessen Schaft ein Pax-Christi-Zeichen prangte. Ich schoss, bis das junge, biegsame Bäumchen, an das ich die Zielscheibe geheftet hatte, langsam und lautlos kippte. Ich war der einzige Junge im Kunst- und Kalligrafiekurs, wo ich Bilder von Grant Wood und Norman Rockwell kopierte. Die Lehrerin nannte mich hon oder honey und legte mir die Hand auf die Schulter, wenn sie meine Arbeit an der Staffelei begutachtete. Ich lernte den Sohn eines philippinischen Oligarchen kennen, auch er ein Austauschschüler. Ich besuchte Disneyland und trank klebrigen Pfirsichlikör mit Steve. Als ich im Frühjahr 1982 ins Internat zurückkehrte, trug ich eine neue Welt in mir.

Sieben Jahre später war ich wieder in den USA. St. Louis. Im Juli. Ein brütend heißer Sommernachmittag. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Ich nahm ein Zimmer im Best Western in der Nähe des Flughafens. Stella war zu diesem Zeitpunkt auf der Farm, saß irgendwo im Schatten und las. Natürlich wusste ich damals nichts von Stellas Existenz, doch möglicherweise spürte ich, dass sie in der Nähe war.

Ich sank auf das Bett und schlief sofort ein. Um drei Uhr wachte ich auf. Ich erinnere mich an ein gelbliches Licht, das durch die Vorhänge drang, von dem in nächtlicher Stille liegenden Flugfeld vielleicht oder der nahen Autobahn, deren Rauschen ich hörte. Mein Magen war übersäuert. Das Letzte, was ich zu mir genommen hatte, war ein winziges Mittagessen im Flugzeug, das mit winzigem Besteck und einem winzigen Becher Wasser serviert worden war. Ich zündete mir eine filterlose Pall Mall an, meine bevorzugte Marke damals. Rauchend lag ich auf dem Bett und dachte nach. Ich zitterte vor Hunger, Asche flockte auf meine dürre, haarlose Brust wie Schnee. Ich wischte die Asche fort, stand auf und zog mich an.

In einer Nische am Aufzug stand eine Eiswürfelmaschine neben einem Cola-Automaten neben einem Snack-Automaten. Es gab Mars und Milky Ways. Die Twinkies, zwei Stück pro Packung, waren cream filled. Das klang wie eine Verheißung. Doch Twinkies sollte ich erst viel später probieren, als mir Katja von der Twinkie-Verteidigung erzählte, Dan Whites erbärmlicher Ausrede für den Mord an dem schwulen Politiker Harvey Milk. Verminderte Schuldfähigkeit wegen Überzuckerung. White bekam sieben Jahre und nahm sich das Leben.

Zehn Jahre ist es her, dass Katja, die damals bereits eingebürgert war, für einen Sitz im Rat der Stadt San Francisco kandidiert